Digitales Unbehagen by Spitzer Manfred

Autor:Spitzer, Manfred [Spitzer, Manfred]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: mvg Verlag
veröffentlicht: 2020-08-09T00:00:00+00:00

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SUPERCOMPUTER UND KATZENVIDEOS

Supercomputer gibt es schon seit Jahrzehnten. Sowohl ihre Leistungen als auch ihr Preis standen immer mit »Millionen« oder »Milliarden« Dollar oder Byte in Verbindung. Man konnte sich als Laie im Grunde also nie so richtig vorstellen, was sie kosten. Noch schwieriger war es, sich vorzustellen, was sie leisten: Was bedeuten zwei Gigabyte Arbeitsspeicher oder eine Rechengeschwindigkeit von einem Gigahertz? Eine Buch- oder Schreibmaschinenseite sind etwa zwei Kilobyte, also 2000 Byte. Zwei Megabyte sind also tausendmal so viel, also tausend Seiten. Wieder tausendmal so viel, also zwei Millionen Seiten, wären dann zwei Gigabyte. Und was bedeutet es, dass ein Computer zwei Millionen Seiten im Arbeitsspeicher, also unmittelbar zur Verfügung hat? Oder dass er in jeder Sekunde eine Milliarde Rechenschritte durchführt?

Noch schwieriger ist es, sich vorzustellen, was man mit dieser Rechenleistung machen kann bzw. wofür man so etwas braucht. Den Computerherstellern ging es übrigens auch nicht anders. Als IBM damit begann, die ersten Computer überhaupt zu bauen, war man in der Firma der Meinung, dass der Bedarf weltweit vielleicht bei etwa sechs (!) Geräten liegen würde. Wie sich jedoch bald herausstellte, war die Welt sehr hungrig nach immer mehr Computern mit immer mehr Rechenleistung. Und so wurden seit den 1980er-Jahren nicht nur Millionen von Computern, sondern auch Hunderte von Supercomputern gebaut. Derzeit konkurrieren die USA und China um den leistungsfähigsten Rechner, und alle paar Monate überbieten sich beide Länder, mittlerweile mit Milliarden von Milliarden FLOPS (kurz für: Floating Point Operations Per Second, das heißt Rechenoperationen pro Sekunde).

Am 31.5.2019 erhielt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die Ehrendoktorwürde der Harvard University im Rahmen des jährlichen Treffens der neuen und ehemaligen Absolventen. Sie sagte dort in ihrer Dankesrede: »Wahrscheinlich hat Ihr Smartphone weitaus mehr Rechenleistung als der von der Sowjetunion nachgebaute IBM-Großrechner, den ich 1986 für meine Dissertation in der DDR nutzen konnte.«

Diese Bemerkung ist durchaus zutreffend, denn jeder Zehnjährige trägt heute einen Computer in seiner Hosentasche mit sich herum: sein Smartphone. Dessen Rechenleistung übertrifft die eines Supercomputers aus den 1980er-Jahren (zum Beispiel die eines Cray XMP, der damals für schlappe 100 Millionen Dollar zu kaufen war) um das Zehnfache.

Man fragte sich in den 1980er-Jahren auch, was die Menschheit mit der Verfügbarkeit von so viel geballter Rechenleistung der Computer der Firma Cray alles anfangen könnte und würde. Keiner wäre damals auf die Idee gekommen, dass Milliarden solcher leistungsfähiger Computer weltweit vor allem zum Betrachten von Katzenvideos auf YouTube und dem Austausch von Nachrichten wie »Ich mag das« oder »Ich esse gerade Gummibärchen« in sozialen Netzwerken dienen würden. Man hatte sich irgendwie schlauere Sachen vorgestellt, die wir machen, wenn erst einmal jeder über eine »super« Rechenmaschine verfügen würde.

Wie man diesen Gedanken dann auch dreht und wendet: Behaglich ist einem dabei nicht zumute.

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